Erstmals Neutrinos aus einem Teilchenbeschleuniger beobachtet
Physik-News vom 20.03.2023
Neutrinos gehören zu den am häufigsten vorkommenden Teilchen im Kosmos, geben Forschenden jedoch nach wie vor viele Rätsel auf. Ein internationales Team hat jetzt zum ersten Mal Neutrinos direkt beobachtet, die in einem Teilchenbeschleuniger erzeugt wurden. Die Physikerinnen und Physiker erhoffen sich, durch ihre neue Entdeckung die Natur dieser fast masselose Elementarteilchen besser verstehen zu können.
Neutrinos wurden 1956 erstmalig entdeckt und spielen unter anderem eine Schlüsselrolle bei dem Prozess, der Sterne brennen lässt. Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler erhoffen sich durch die Erforschung der Neutrinos neue Erkenntnisse über energiereiche Objekte im Universum.
Publikation:
H. Abreu et al.
First Observation of Collider Neutrino Events with the FASER Detector at the LHC FASER Collaboration
Preprint in Kürze verfügbar
„Neutrinos sind Teilchen, von denen wir wissen, dass sie existieren“, sagt Prof. Dr. Florian Bernlochner vom Physikalischen Institut der Universität Bonn. „Sie waren sehr wichtig für die Entwicklung des Standardmodells der Teilchenphysik. Aber bisher wurde kein Neutrino, das an einem Teilchenbeschleuniger erzeugt wurde, jemals durch ein Experiment direkt nachgewiesen.“
In der aktuellen Studie entdeckten Bernlochner und seine Kollegen jetzt die Neutrinos aus einer ganz neuen Quelle – aus Teilchenbeschleunigern, in denen zwei Teilchenstrahlen mit extrem hoher Energie zusammenstoßen, um die Neutrinos zu erzeugen. Es ist das jüngste Ergebnis des Forward Search Experiments, kurz FASER genannt. Dabei handelt es sich um einen Teilchendetektor, der am Kernforschungszentrum CERN in Genf (Schweiz) installiert ist. FASER spürt dort Teilchen auf, die vom Large Hadron Collider (LHC) des CERN erzeugt werden. Im Vergleich zu typischen Teilchendetektoren zeichnet sich FASER dadurch aus, dass der Aufbau relativ klein ist – er passt in einen kleinen Seitentunnel am CERN.
Beschleuniger wie der LHC produzieren reichlich Neutrinos und Antineutrinos aller Arten – auch bei sehr hohen Energien, wo Neutrino-Wechselwirkungen noch nicht beobachtet werden konnten. Ein Grund, warum Beschleuniger-Neutrinos bisher unentdeckt blieben, ist ihre extrem schwache Wechselwirkung. Außerdem werden die Neutrinos mit der höchsten Energie, bei denen die Wechselwirkungswahrscheinlichkeit am größten ist, vorwiegend parallel zur Strahlachse produziert. Dort haben die Beschleuniger-Detektoren typischerweise Löcher, um die kollidierenden Teilchenstrahlen passieren zu lassen.
Mehr als 150 beobachtete Neutrino-Ereignisse
Für die aktuelle Studie wurden 153 Neutrino-Ereignisse in LHC-Kollisionsdaten nachgewiesen, die zwischen Juli und November 2022 aufgezeichnet wurden. Die nachgewiesenen Neutrinos wechselwirken mit einem sogenannten Emulsionsdetektor mit Wolframplatten und verwandeln sich dabei in Myonen, also andere Elementarteilchen. Diese können wiederum mit dem FASER-Detektor und dessen Spektrometer nachgewiesen werden.
Die meisten bisher von Physikerinnen und Physikern untersuchten Neutrinos sind niederenergetisch. „Die von FASER entdeckten Neutrinos sind jedoch die energiereichsten, die jemals in einem Labor erzeugt wurden, und ähneln den Neutrinos, die man findet, wenn Teilchen aus dem Weltraum in unserer Atmosphäre sogenannte Teilchenschauer auslösen“, sagt FASER-Gruppenleiter Florian Bernlochner. Diese sehr hochenergetischen Neutrinos im LHC seien wichtig, um rätselhafte Beobachtungen in der Teilchenastrophysik zu verstehen.
„Sie können uns etwas über den Weltraum verraten, was wir auf andere Weise nicht erfahren können“, sagt Tobias Böckh vom Physikalischen Institut der Universität Bonn, der im Rahmen seiner Doktorarbeit an der Studie beteiligt war. Die Arbeit könnte auch Licht auf kosmische Neutrinos werfen, die große Entfernungen zurücklegen und mit der Erde kollidieren.
In Folgestudien wollen die Forschenden nun weitere Eigenschaften der Neutrinos untersuchen. Sie sollen neue Erkenntnisse über die Wechselwirkungen der geisterhaften Teilchen bei hohen Energien liefern.
Beteiligte Institutionen und Förderung
An der Studie waren weltweit 21 Universitäten und das CERN in Genf beteiligt. Die Studie wurde gefördert durch die Heising-Simons-Foundation, die National Science Foundation, den Europäischen Forschungsrat und die Schweizerische Nationalfonds zur Förderung der wissenschaftlichen Forschung.
Diese Newsmeldung wurde mit Material der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn via Informationsdienst Wissenschaft erstellt.