Quelltext der Seite Mittlere freie Weglänge

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Die '''mittlere freie Weglänge''' <math>\lambda</math> ist die [[Weglänge]], die ein [[Teilchen]] (z.&nbsp;B. [[Atom]], [[Molekül]], [[Ion]] oder [[Elektron]]) in einem gegebenen Material im Durchschnitt zurücklegt, bevor es zum [[Stoßvorgang|Stoß]] (irgendeiner Art) mit einem anderen Teilchen kommt. Hat ein Teilchenstrom in einem Material die mittlere freie Weglänge durchlaufen, so haben knapp 2/3 der Teilchen bereits einen Stoß ausgeführt, das übrige Drittel (genau ein Bruchteil 1/''[[Eulersche Zahl|e]]'') noch keinen.

== Berechnung aus Wirkungsquerschnitt und Teilchendichte ==
Die mittlere freie Weglänge hängt mit der [[Teilchendichte]] <math>n</math>&nbsp;&nbsp;(Anzahl der Teilchen pro Volumen) und dem [[Wirkungsquerschnitt#Totaler Wirkungsquerschnitt|totalen Wirkungsquerschnitt]] <math>\sigma</math> zusammen:

:<math>\lambda = \frac{1}{n \cdot \sigma}</math>

Anschaulich ist <math>\sigma</math> die Größe der Zielscheibe, die ein Teilchen den anderen Teilchen für einen Stoß bietet. Nachdem es eine freie Weglänge <math>\lambda</math>  geflogen ist, hat es mit dieser Fläche das Volumen <math>\lambda \sigma = 1/n</math> überstrichen, das ist das Volumen, in dem sich durchschnittlich ein Teilchen befindet. Das Teilchen ist also im Durchschnitt einmal mit einem anderen Teilchen zusammengestoßen.

=== Abschätzung bei Gasen ===
Beim Stoß zweier kugelförmiger Teilchen mit gleichem Durchmesser <math>d</math> ist  <math>d</math> auch der Abstand der Mittelpunkte, also der Radius des kreisförmigen [[Wirkungsquerschnitt #Geometrischer Wirkungsquerschnitt|geometrischen Wirkungsquerschnitts]]. Dieser ergibt sich zu

::<math>\sigma_\text{geom} = \pi \, d^2</math>

Daraus folgt die geometrische mittlere freie Weglänge zu

:<math>\Rightarrow \lambda_\text{geom} = \frac {1}{\pi \, n \, d^2}</math>

Die oben gegebene Deutung gilt, wenn die Stoßpartner des fliegenden Teilchens in Ruhe sind.

Wenn sich aber ''alle'' Teilchen ungeordnet bewegen (d.&nbsp;h. auch die Stoßpartner des fliegenden Teilchens), führen Gleichgewichtsbetrachtungen unter Annahme einer [[Maxwellsche Geschwindigkeitsverteilung|Maxwellschen Geschwindigkeitsverteilung]] zu einer freien Weglänge, die um den Faktor <math>\tfrac {1}{\sqrt{2}}</math> kürzer ist:<ref>William C. Hinds: ''Aerosol Technology: Properties, Behavior, and Measurement of Airborne Particles''. Wiley-Interscience, New York 1999, ISBN 0-471-19410-7</ref>

:<math>\lambda = \frac1{\sqrt{2} \, \pi \, n \, d^2}</math>

== Definition für zwei Arten von Teilchen ==
In einem Raumbereich, der zwei Arten von Teilchen enthält, sind drei Arten von Stößen möglich:
* zwei Teilchen vom Typ&nbsp;1 stoßen aneinander
* zwei Teilchen vom Typ&nbsp;2 stoßen aneinander
* am Stoß sind ein Teilchen vom Typ&nbsp;1 und ein Teilchen vom Typ&nbsp;2 beteiligt. 
Die Teilchendichten der Teilchenarten seien <math>n_1</math> bzw. <math>n_2</math> und die Wirkungsquerschnitte <math>\sigma_1</math>,  <math>\sigma_2</math> und <math>\sigma_{12}</math>. 

Die mittleren freien Weglängen für Stöße von Teilchen jeweils an ihresgleichen sind schon mit obiger Formel definiert:

:<math>\lambda_1 = \frac{1}{n_1 \cdot \sigma_1}</math> 
bzw. 
:<math>\lambda_2 = \frac{1}{n_2 \cdot \sigma_2}</math>

Entsprechend definiert man die mittlere freie Weglänge<ref> {{Literatur|Autor=Paul Reuss|Titel=Neutron physics|Verlag=EDP
Sciences|Ort=Les Ulis, France|Jahr=2008|ISBN=978-2-7598-0041-4|Seiten=xxvi, 669}}, S. 50 </ref>
eines Teilchens vom Typ&nbsp;2 im Medium vom Typ&nbsp;1:

:<math>\lambda_{21} = \frac{1}{n_1 \cdot \sigma_{12}}</math>

bzw. analog <math>\lambda_{12}</math> beim Stoß eines Teilchens vom Typ&nbsp;1 im Medium vom Typ&nbsp;2:

:<math>\lambda_{12} = \frac{1}{n_2 \cdot \sigma_{12}}</math>

wobei in beiden Fällen der Wirkungsquerschnitt <math>\sigma_{12}</math> gleich ist. 

Der Wirkungsquerschnitt und die mittlere freie Weglänge zweier unterschiedlicher Teilchen werden meist ohne Index oder andere [[Schriftauszeichnung#Formelsatz|Auszeichnungszeichen]] geschrieben, also <math>\sigma=\sigma_{12}</math> und <math>\lambda=\lambda_{21}</math>:

:<math>\lambda = \frac{1}{n_1 \cdot \sigma}</math>

Der Index der [[Anzahldichte]] <math>n_1</math> wird in der Regel ebenfalls weggelassen, wenn es nur um die mittlere freie Weglänge von Teilchen in irgendeinem Medium mit Teilchen vom Typ&nbsp;1 geht. Dann scheinen die eingangs dieses Artikels gegebene Definition der mittleren freien Weglänge und die zuletzt gegebene Gleichung formelmäßig gleich zu sein (und werden deshalb auch manchmal verwechselt). Die Anzahldichten der Teilchen <math>n</math> und <math>n_1</math> sind in Wirklichkeit aber unterschiedliche Größen: bei <math>n</math> handelt es sich um die Anzahldichte der Teilchen von nur einem Typ, bei <math>n_1</math> aber um die Anzahldichte der Teilchen des Mediums.<!-- kann man das bitte noch anschaulicher erklären, ich versteh auf Anhieb nicht, worin der Unterschied besteht -->

Ähnlich wie beim [[Billard]]spiel bewirkt der elastische Stoß zweier Teilchen Richtungsänderungen beider Teilchen, allerdings, im Unterschied zum Billardspiel, im dreidimensionalen [[Raum (Physik)|physikalischen Raum]] und mit Teilchen unterschiedlicher Größe. Häufig bedeutet ein Stoß zweier unterschiedlicher Teilchenarten auch, dass sie eine Reaktion miteinander eingehen. Sind die Stoßpartner zum Beispiel zwei [[Atom]]e, kann ein [[Molekül]] gebildet werden, sind die Stoßpartner ein [[Neutron]] und ein [[Atomkern]], kann ein anderes [[Nuklid]] entstehen oder ein [[Atomspaltung|Atomkern gespalten]] werden.

Implizit gehen wir davon aus, dass beide Stoßpartner Teilchen eines [[Gas]]es sind, denn nur dort können sich ''beide'' Stoßpartner frei bewegen, was überhaupt erst nahelegt, von einer freien Weglänge zu sprechen. Es gibt aber auch Stöße und mittlere freie Weglängen, wenn ein Stoßpartner ein Teilchen eines Festkörpers oder einer Flüssigkeit ist (Teilchen vom Typ&nbsp;1), und sich nur der zweite Stoßpartner wie ein Teilchen eines Gases verhält (Teilchen vom Typ&nbsp;2). Dabei sind in der Regel Stöße von Teilchen vom Typ&nbsp;1 mit Teilchen vom Typ&nbsp;2 von Interesse (und nicht Stöße der beiden jeweiligen Teilchen-Typen mit ihresgleichen).

=== Abschätzung für den Stoß von zwei Arten von Teilchen ===
Der geometrische Wirkungsquerschnitt beim elastischen Stoß zweier starrer Kugeln mit den Radien <math>r_1</math> bzw. <math>r_2</math> ist

::<math>\sigma_\text{geom} = \pi \, (r_1+r_2)^2</math>

Damit wird die geometrische mittlere freie Weglänge:

:<math>\Rightarrow \lambda_\text{geom} = \frac {1}{\pi \, n_1 \, (r_1+r_2)^2}</math>

Der geometrische Wirkungsquerschnitt und damit die geometrische mittlere freie Weglänge der elastischen Streuung hängen also ''nicht'' von den [[Kinetische Energie|kinetischen Energien]] der Kugeln ab. ''Reale'' Wirkungsquerschnitte und damit die mittleren freien Weglängen können dagegen stark von der kinetischen Energie der Stoßpartner abhängen und sind folglich nicht unbedingt durch das o.&nbsp;g. einfache geometrische Modell zu berechnen. Auch im Fall ''realer'' Wirkungsquerschnitte kann es jedoch hilfreich sein, den geometrischen Wirkungsquerschnitt als Bezugsgröße zu verwenden, in der Art: der reale Wirkungsquerschnitt ist 10-mal größer als der geometrische, dann ist die reale mittlere freie Weglänge nur ein Zehntel der geometrischen.

=== Stöße von Neutronen und Atomkernen ===
Stöße von Neutronen und [[Atomkern]]en sind (gegenwärtig) der wichtigste Fall in der [[Physik]] für Stöße von zwei Arten von Teilchen, sie prägen die [[Reaktorphysik]].

Wenn in der Reaktorphysik von ''mittlerer freier Weglänge'' die Rede ist, ist stets die zweite Definition dieser Größe gemeint, also die mittlere freie Weglänge von Neutronen in Materie. Dabei bewegen sich [[Neutron #Freie Neutronen|freie Neutronen]] (Teilchen vom Typ&nbsp;2 mit einer Teilchendichte <math>n_2</math>) in einem Festkörper oder einer Flüssigkeit („Wirtsmedium“) i.&nbsp;allg. so chaotisch wie Moleküle in einem Gas. Wir nehmen an, das Wirtsmedium bestehe aus nur einer Teilchen- bzw. einer Atomart (Teilchen von Typ&nbsp;1), man denke etwa an [[Graphit]]atome. Da jedes Atom nur einen Atomkern besitzt, ist die Teilchendichte <math>n_1</math> der Atome gleich der ihrer Atomkerne.

Der [[Kehrwert]] der mittleren freien Weglänge diese Typs ist unter dem Namen ''[[Wirkungsquerschnitt #Makroskopischer und temperaturabhängiger Wirkungsquerschnitt|Makroskopischer Wirkungsquerschnitt]]'' eine der wichtigsten Größen der Reaktorphysik:

:<math>\Sigma = \frac{1}{\lambda} =  n_1 \cdot \sigma</math>

Wirkungsquerschnitte von [[Kernreaktion]]en hängen extrem stark von der Energie ab und sind somit auch nicht mehr geometrisch zu erklären. Nur im Fall der elastischen Streuung von Neutronen an den Atomkernen gebräuchlicher [[Moderator (Physik)|Moderatoren]] führt das oben angegebene geometrische Modell auf mittlere freie Weglängen, die in der Größenordnung der gemessenen Werte liegen; dies zumindest für Neutronen mit kinetischen Energien in einem gewissen mittleren Intervall. 

Neutronen untereinander stoßen sich auch. Dies ist ein Fall für die erste Definition der mittleren freien Weglänge. Die Anzahldichte der Neutronen ist selbst im [[Forschungs-Neutronenquelle Heinz Maier-Leibnitz|Hochflussreaktor]] vergleichsweise gering. Klein ist auch der Wirkungsquerschnitt für den Stoß zweier Neutronen. Deshalb wird vermutlich in keinem Lehrbuch der Reaktor- oder Neutronenphysik die mittlere freie Weglänge für diesen Typ von Stoß auch nur erwähnt.

Atomkerne untereinander können sich nicht stoßen. Selbst im Fall, dass die Neutronen sich in [[Helium]]-Gas bewegen, wie im [[Hochtemperaturreaktor]], stoßen allenfalls Helium-Atome aufeinander. Allerdings lässt sich, falls erforderlich, die mittlere freie Weglänge für solche Atomstöße mit der o.&nbsp;g. ersten Definitionsformel und dem geometrischen Wirkungsquerschnitt berechnen, der denjenigen der Atomkerne um Größenordnungen übertrifft.

== Beispiele ==
=== Gasmoleküle ===
Die mittlere freie Weglänge eines Gasmoleküls beträgt in [[Luft]] unter [[Standardbedingungen]] etwa 68&nbsp;[[Nanometer]].

Nachfolgende Tabelle listet ungefähre Zahlen für freie Weglängen für Gasmoleküle bei verschiedenen Drücken auf:
{| class="wikitable"
|-----
! width="25%"   | Druckbereich
! width="25%"   | [[Druck (Physik)|Druck]] in [[Hektopascal|hPa]]
! width="25%"   | Teilchendichte <math>n</math><br />in Moleküle pro cm³
! width="25%"   | mittlere freie Weglänge <math>\lambda</math>
|-----
| Umgebungsdruck
| 1013
| 2,7·10<sup>19</sup>
| 68 nm
|-----
| Grobvakuum
| 300 … 1
| 10<sup>19</sup> … 10<sup>16</sup>
| 0,1 … 100 μm
|-----
| Feinvakuum
| 1 … 10<sup>−3</sup>
| 10<sup>16</sup> … 10<sup>13</sup>
| 0,1 … 100 mm
|-----
| Hochvakuum (HV)
| 10<sup>−3</sup> … 10<sup>−7</sup>
| 10<sup>13</sup> … 10<sup>9</sup>
| 10&nbsp;cm … 1 km
|-----
| [[Ultrahochvakuum]] (UHV)
| 10<sup>−7</sup> … 10<sup>−12</sup>
| 10<sup>9</sup> … 10<sup>4</sup>
| 1&nbsp;km … 10<sup>5</sup> km
|-----
| extr. Ultrahochv. (XHV)
| <10<sup>−12</sup>
| <10<sup>4</sup>
| >10<sup>5</sup> km
|}

=== Elektronen ===
[[Datei:E-IMFP universal-de.svg|mini|Universelle Kurve für die inelastische mittlere freie Weglänge von Elektronen in Elementen basierend auf Gleichung (5) in <ref name="Seah" />]]
Die mittlere freie Weglänge [[freies Elektron|freier Elektronen]] ist wichtig bei Anwendungen von [[Elektronenstrahl]]en im Vakuum (z.&nbsp;B. bei bestimmten [[Oberflächenchemie|oberflächensensitiven]] analytischen Methoden oder in [[Kathodenstrahlröhre|Braunschen Röhren]]). Sie hängt ab von der [[Kinetische Energie|kinetischen Energie]] des Elektrons.

Die [[Stoß (Physik) #Unelastischer Stoß|inelastische]] freie Weglänge im [[Festkörper]] kann für die meisten [[Metalle]] mit einer „Universellen Kurve“ abgeschätzt werden (s.&nbsp;Abb.):<ref name="Seah">M. P. Seah, W. A. Dench: ''Quantitative electron spectroscopy of surfaces: A standard data base for electron inelastic mean free paths in solids.'' In: ''Surface and Interface Analysis.'' 1, 1979, S.&nbsp;2, [[doi:10.1002/sia.740010103]].</ref> bei Energien um 100&nbsp;[[Elektronenvolt|eV]] ist sie für die meisten Metalle am geringsten, da hier Prozesse im Festkörper angeregt werden können,  z.&nbsp;B. [[Plasmon (Physik)|Plasmonen]]; bei höheren und niedrigeren Energien sind die mittleren freien Weglängen im Festkörper größer. Der Wirkungsquerschnitt für elastische Stöße ist meist kleiner als der für inelastische Stöße,<ref name="Werner">Wolfgang S. M. Werner: ''Electron transport in solids for quantitative surface analysis.'' In: ''Surface and Interface Analysis.'' 31, 2001, S.&nbsp;141, [[doi:10.1002/sia.973]].</ref> damit ist bei gleicher Teilchendichte die elastische freie Weglänge ''größer'' als die inelastische.

In gasförmigen [[Isolierstoff]]en (z.&nbsp;B. [[Schwefelhexafluorid]]) beeinflusst die mittlere freie Weglänge die elektrische [[Durchschlagfestigkeit]].

Für Elektronen im [[Impulsraum]] (siehe [[Fermi-Kugel]]) betrachtet man statt der Weglänge die [[mittlere freie Flugzeit]].

== Einzelnachweise ==
<references />

{{SORTIERUNG:Mittlere freie Weglange}}
[[Kategorie:Statistische Physik]]
[[Kategorie:Physikalische Chemie]]
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